Die freundlichsten Einwohner, lähmend schöne Kunstwerke, Pizza Margherita – das Original, antike Schätze und Mosaiken, eine von Lava erhaltene römische Stadt, Sonne und Meer satt. Neapel – über dich gibt es so viel zu erzählen! Über deine Geschichte und deine Stadtviertel, das merkwürdige Verhältnis deiner Bewohner zu den Toten, ihre Riten, Legenden und Wunder. Vor allem möchte ich dir nah sein und festhalten, wie ich dir zum ersten Mal begegnete. Bleiben wir für immer zusammen, Neapel!
Hätte ich meinen Goethe aufmerksamer gelesen, wüsste ich: Vedi Napoli e poi muori! (Sieh’ Neapel und dann stirb!) Kein Fluch, nein, eher: Du hast jetzt das Schönste gesehen, darum sei beruhigt! Ich weiß, nicht wo es passierte, wann oder wie. Aber ich bin von Sehnsuchtsattacken und Recherchewut gefesselt, höre die Cicerinella jeden Abend. Habe ich mich wirklich in eine Stadt verliebt!? Waren es die Busfahrer, die mir gefragt oder ungefragt den Weg wiesen? Oder der junge, heißblütige Napolitaner, der mir sein Restaurant und den Ausblick auf den Golf von Neapel zeigen wollte? Einfach jeder, dem ich begegnete, wollte mich für die Stadt einnehmen.
Ankommen und Verlaufen in Neapel
Abends bist du schmutzig und laut. Das fällt mir auf, als ich nach einer langen Zugfahrt aus dem Norden von der Linea 2 auf die Piazza Cavour gespuckt werde. Ich suche ein großes, gelbes Gebäude, doch bei Laternenbeleuchtung sehen alle Gebäude gelb aus. Ich gebe auf, den Straßennamen zu finden und konzentriere mich darauf, bei kaputter Ampel die Straße zu überqueren. Ich warte einfach, bis ein Neapolitaner es tut. Nach kurzer Zeit des Wartens verliere ich die Scheu vor dem Verkehr. Da die Autofahrer ständig Fußgänger erwarten, reicht es, Augenkontakt aufzunehmen und auf eine Reaktion zu warten. Gestikulierend danke ich für die sichere Passage. Die merkliche Schmutzschicht auf den Straßen erinnert mich an hartnäckigen Schmutz auf einer Kameralinse, der nichts mit dem Objektiv zu tun hat, aber die Bilder verschattet.
Am nächsten Morgen bin ich ohne festes Ziel, ich bin ja schon da, in Neapel. Ich bin auf dem Weg zu den Kirchen in der Altstadt, in der sich mein Hotel befindet. Schnell verschluckt mich dabei der weiche Unterbauch der Stadt. Ich verliere die Orientierung im Marktgewirr der Gassen der Altstadt und lasse mich treiben. Auf der Piazza Carlo III lässt er mich frei und ich flüchte in ein Café, um meinen Stadtplan zu studieren.
Der Tag ist jung. Voller Tatendrang beschließe ich, auf den Capodimonte-Hügel hinaufzulaufen, vorbei am botanischen Garten, am topografischen Institut immer entlang der Salità Moiariello. Mit jeder Stufe und mehr Schweiß komme ich mehr und mehr in Neapel an. Der Park mit dem Museumsgebäude erscheint wie eine Oase mit freiem Blick. Doch mittwochs ist das Museum Capodimonte geschlossen und ich wandere hinab, zu den Katakomben von San Gennaro.
Unsere Führerin vom Verein La Paranza ist sehr jung und erklärt geduldig die zeitgenössischen Kunstobjekte, die sich mit Transzendenz auseinandersetzen. Sie spielen mit den Legenden und mythischen Vorstellungen der Neapolitaner und eine Deutung tut gut. Sie schafft es, diesem merkwürdigen und heiligen Ort das Unheimliche zu nehmen, mit ihrer Geduld und einer unkomplizierten Fotoerlaubnis.
Heute liegen alle Knochen auf dem Fontanelle Friedhof, den ich mir später ansehen will. Danach springe ich in den Bus und fahre hinunter zum Museo, dem nationalen archäologischen Museum von Neapel. Es ist riesig, wie mein Hunger. Schon eine halbe Stunde später muss ich etwas Essbares suchen (nur nicht-funktionierende Automaten im Museo!). Ich laufe in die Arme von Mario, der die hungrigen Touristen in die Pizzeria seines Cousins gleich um die Ecke einsammelt. Ich bin leichte Beute und eile ihm voran zu einer köstlichen Pizza Margherita. Dann kehre ich zurück zum ausruhenden Herkules, den Mosaiken von Pompeji wie der Alexanderschlacht, den geheimen Kammern und dem farnesischen Atlas im Sala Meridiana.
Golf von Neapel
Am nächsten Tag geht es für mich aufs Meer. Ich treffe Freunde auf Ischia, zum Wein trinken, rumalbern, Geburtstag feiern und sehe Neapel vom Golf aus. Sehe den Vesuv.
Pompeji lebt
Die Circumvesuviana ist zuständig für Zeitreisen – nach 79 n. Chr. Der Vesuv begräbt die umliegenden Städte wie Pompeji und Herculaneum und konserviert die letzten Minuten der in der Stadt verbliebenen Menschen, ihre Gebäude und ihre Kunst. Pompeji war vergleichsweise menschenleer zur Zeit des Ausbruchs, da es schon siebzehn Jahre zuvor durch ein Erdbeben zerstört worden war. Dennoch wurden 2.000 Menschen vom wuchtigen Ausbruch des Vesuv überrascht.
Trotz der Tragik des Ereignisses (und der Touristenströme, daher mein Tipp: Tour in der Kleingruppe ohne Anstehen buchen) eile ich beschwingt durch Pompejis Ruinen, den Spuren des Lebens in dieser Stadt auf der Fährte. Graffitis, Wandmalereien, Bürgersteige hoch über den Abwasserflüssen der Straßen, steinerne Betten und szenische Inspirationen für die Bordellkunden im Lupanare – Pompeji lebt!
Mein Tipp: Eine von Archäologen geführte Tour durch Pompeji in kleiner Gruppe
Tränen und Marmor, Ars Nova, Capodimonte und mein Spaziergang zum Fontanelle-Friedhof
Tag vier ist mein erster letzter Tag in Neapel. Teils aus Erschöpfung teils aus Traurigkeit, Neapel wieder zu verlassen, bin ich sentimental. Mein erstes Ziel: Altstadtspaziergang mit Kirchen, allen voran die Capella Sansevero.
Die Barockkapelle Sansevero ist die ehemalige Privatkapelle der Familie Sansevero. Raimondo Sansevero, Erfinder, Alchimist und Freimaurer hat sie im 18. Jahrhundert restauriert. Sie bleibt sein zugänglichstes Vermächtnis, denn seine Forschungsergebnisse zerstörten er kurz von seinem Tod und seine Nachfahren danach, um eine Exkommunizierung zu vermeiden. Deshalb ist unbekannt, wie seine anatomischen Maschinen, zwei Skelette mit erhaltenen Blutgefäßen, entstanden sind (wobei eine Untersuchung makabre Legenden entkräftet).
In der Kapelle angekommen will ich mich vor der Perfektion und Schönheit der Marmorskulptur Cristo velato (Verhüllter Jesus) nur noch in Tränen auflösen. Die Figur des Leichnams unter dem Tuch sieht lebendig aus, so als wäre der Tod gestern eingetreten und hätte ihn gleich darauf wie von Zauberhand in Marmor verwandelt. Ich muss Sonne tanken und gehe zur Piazza Gesù Nuovo.
Die Via Capitelli gibt einen Blick auf den Kalvarienberg frei. Dann höre ich Musik, Gesang und eine begeisterte Menge. Ich bin auf Ars Nova getroffen, die gerade die Cicerenella singen!
Die Cicerenella (piccolo cece, “kleine Kichererbse”) ist ein altes neapolitanisches Volkslied, das alle Zuschauer zu kennen scheinen, da sie begeistert klatschend mitsingen. Es ist eine energetische Tarantella, die sofort zum Tanzen ansteckt, was auch der Zweck war, um das Gift eines Spinnenbisses auszuschwitzen. So hört es sich an:
Energetisiert mache ich mich auf den Capodimonte-Hügel auf, um Caravaggio zu sehen. Als der Busfahrer der Linie 178 meinen leuchtend gelborangen Stadtplan von DeAgostini sieht, samt meinem fragenden Blick, lädt er mich in den Bus ein: Ja es sei der Richtige zum Museum Capodimonte. Ich hatte erst vermutet, der Bus ginge in die Pause, da er ganz leer war und andere wartende Passagiere nicht eingestiegen waren. Kurz darauf betrete ich zufrieden das Capodimonte, dessen drei Etagen voller Schätze mir ganz allein zur Verfügung zu stehen scheinen.
Ich habe noch zwei Stunden Zeit, was soll’s, versuche ich den Eingang zum Fontanelle Friedhof zu finden. Hier liegen acht Millionen Schädel und Knochen, von denen einige von den Neapolitanern adoptiert worden waren, bis der König diese Praxis untersagte. Auch die Gebeine aus den Katakomben von St. Gennaro befinden sich hier. Ich nehme den Fahrstuhl hinunter von der Brücke ins Sanità-Viertel. Es ist ruhig, nur der übliche Verkehr und ich weiche geparkten Mopeds und Wäscheständern auf dem Gehweg aus. Der Geruch von frisch gewaschener Wäsche begleitet mich den ganzen Weg. Er verbreitet Häuslichkeit und macht mich zum Eindringling.
Nach zwei Kurven beginne ich zu zweifeln, beobachtet fühle ich mich eh schon. Die drei Männer an der Ecke winken freundlich und weisen mich an, einfach immer weiter geradeaus zu gehen. Der Friedhof ist seit vier Uhr geschlossen. Zwei Mitarbeiter kommen gerade heraus und laden mich ein, morgen früh wieder zu kommen. Ach, morgen früh bin ich längst fort aus dem Paradies, zurück im kalten, verschneiten Norden, sitze in meinem Holzhaus und zähle mein Geld!
Auf Wiedersehen Neapel
Meine Schatztruhe, du mein Neapel. An vielen Stellen blank poliert, golden, in den Ecken versteckt sich mancher Dreck. Deine Verzierungen so zahlreich, dass es unmöglich scheint, deine Oberfläche ganz zum Glänzen zu polieren. Dein Reichtum steckt tief in dir drin, geschaffen aus Leidenschaft, Weisheit und tiefem Glauben und macht deine Lebendigkeit und Leidensfähigkeit aus.