Violetta kannte die Lösung zu ihrer wirksamen Verteidigung, es gab nur eine. War es das Vertrauen ihres Vaters, das Glück der Hochzeit, die Freude auf das neue Leben, die Gemeinschaft der Nachbarn und Freunde, die selbst voller Wut waren oder alles zusammen. Als es darauf ankam hatte sie die notwendige Kraft. In ihrer Hochzeitsnacht ging sie hinauf zur Burg. Dort erwartete sie der Marquis Raineri di Biandrate, 1149 von Kaiser Friedrich II. Barbarossa als Statthalter eingesetzt, der sich das „jus primis noctis“ nahm, das Recht der ersten Nacht mit den jungvermählten Frauen aus dem Volk. Violetta zog den mitgebrachten Dolch so schnell unter ihrem Kleid hervor, dass sie es schaffte, dem brutalen Tyrannen die Kehle durchzuschneiden. Danach trug sie seinen Kopf an die Burgmauer und hob ihn empor, so dass die vor der Burg Versammelten ihn sehen konnten – das Zeichen für den Aufstand. Die Wartenden stürmten die Burg und brannten sie nieder. Violettas Widerstand hatte das Signal gegeben.
Karneval in Ivrea – Die Geschichte
Die Legende machte die Müllerstochter (mugnaia) zur Symbolfigur des erfolgreichen Volksaufstands und zentralen Figur der im Karneval in Ivrea alljährlich erneut zelebrierten Rebellion. Historisches Körnchen Wahrheit in der Legende könnte ein Aufstand der zahlreichen Müller an der Dora Baltea gegen eine neue Mehlsteuer gewesen sein.
Der Karneval von Ivrea stellt die historische Rebellion und Befreiung von der Tyrannei nach und wurde 1808 erstmals begangen. Über die Jahre hat sich ein reichhaltiges Zeremoniell etabliert, welches die Stadt für zehn Tage im Februar in ihrem Bann hält. Kernstücke des Karnevals von Ivrea sind ein historischer Umzug und die spektakuläre Orangenschlacht (battaglia delle arance). Die mugnaia, die Müllerstocher wird jedes neu Jahr gewählt.
Die Regeln der Rebellion
Es gibt offiziell nur fünf Regeln, um Karneval in Ivrea erfolgreich zu absolvieren und erfolgreich heißt, am Aschermittwoch unversehrt Dorsch und Polenta essen zu können. Mit dem Tragen der phrygischen Mütze (Berretto Frigio) zeigen die Träger Sympathie mit den Aufständischen (und vermeiden so, mit Orangen beworfen zu werden). Orangen werfen kann jeder, solange er oder sie sich einem der Teams anschließt. Werfer schützen das Gesicht am besser mit dem Arm. Zuschauern wird empfohlen sich hinter den Absperrnetzen aufzuhalten. Ganz wichtig: Schuhe mit rutschfester Sohle wie Gummistiefel und einfache Kleidung. Für den historischen Umzug gelten die Regeln für den Umgang mit schweren Kutschen: Man gerät lieber nicht vor die Hufe oder unter die Räder!
Das Orangenwerfen ist seit 1830 Teil des Karnevals. Zuerst wurde mit Bohnen geworfen. Bohnen hatte der Feudalherrscher dem Volk zweimal im Jahr ausgeben lassen. Die warfen sie jedoch zum Zeichen ihrer Verachtung auf die Straße. Wie kamen nun die Orangen ins Spiel? Junge Mädchen hatten in den 1930ern begonnen, die Aufmerksamkeit der Jungs auf den Wagen auf sich zu lenken, indem sie sie mit Orangen bewarfen. Die Orangenwerferei breitete sich während des Karnevals aus und wurde allmählich zum festen Bestandteil der Zeremonie. Heute gibt es Teams von Orangenwerfern, in jedem Jahr wird ein Siegerteam gekürt. Das Orangenwerfen findet auf den Plätzen Piazza Freguglia, Piazza del Rondolino, Piazza di Città, Piazza Otinetti und in der Via Gozzano statt. Die Piazza Otinetti, von der die Fotos unten stammen, ist der Platz der aranceri scacchi, dem Siegerteam von 2013. Die Fotos des Spektakels sind hinter den Sicherheitsnetzen entstanden…
Olivetti, Sozialpolitik, Design – Ivrea hat gute Ideen
Mein erster Besuch in Ivrea galt, das gebe ich zu, dem Karneval mit seiner Orangenschlacht. Doch auf dem Weg ins historische Zentrum, auf der Via Jervis komme ich an den Gebäuden der Firma Olivetti vorbei und bin beeindruckt. Gegründet 1908 als Hersteller von Schreibmaschinen, setzte Olivetti von Anfang an zahlreiche innovative Ideen der Sozialpolitik um wie Betriebskrankenkasse, Kindergarten und Begabtenförderung. So eine Art Sozialismus von unten. Die Firma errichtete in den 1930ern nicht nur die neuen Firmengebäude nach Bauhausprinzipien sondern bauten den Mitarbeitern moderne Wohnhäuser in einem eigenen Stadtviertel. Auch im Industriedesign setze Olivetti hohe Maßstäbe und produzierte zahlreiche Designklassiker, die sich heute in Museen wiederfinden. Später produzierte Olivetti elektrische Rechenmaschinen, Büromaschinen und Computer (1959). Heute ist sie auch im Telekommunikationssektor aktiv und baut wieder Computer – Tablets.
Mit 24.000 Einwohnern ist Ivrea eine kleine Stadt. Kleine Städte haben für mich etwas Beschauliches und Ruhiges. Sie bedeuten das Gegenteil von Hektik. Bleiben kleine Städte eher sich selbst treu, weil nicht alle in sie streben? Vielleicht haben kleine Städte genau das richtige Tempo beim Wachstum. Ihre Einwohner fühlen sich ihnen verbunden und verteidigen sie. Zugezogene werden heimisch, weil die kleine Stadt Menschen Heimat ist. Vielleicht sind kleine Städte so entspannt, weil sie sich auf eine Sache konzentrieren: eine bedeutende Firma oder Industrie, ein Schloss, eine Universität. Kleine Städte feiern sich gern selbst. Ivrea tut dies auf eine einzigartige, lebendige Weise.
Dieser Artikel entstand im Rahmen der Blogparade Kleine Städte.