Ketzerisches Venedig

Gibt es eine schönere Stadt als Venedig? Müsste ich mich für den zauberhaftesten Ort in Europa entscheiden, wäre die Lagunenstadt mein heißer Favorit. Auch wenn ein Besuch in Venedig zu einem Geduldsspiel werden kann. Wann reise ich am besten, um weniger Touristen zu begegnen? Was schaue ich mir an? Welches Thema gebe ich meiner Reise, um von der Fülle nicht überwältigt zu werden? Wo und wie finde ich noch etwas vom echten Venedig? “Ketzerisches Venedig” ist garantiert ein spannendes Thema, um die Stadt zu erkunden. Vor Ort oder vom Sofa aus.

Neue Ideen begeistern die Venezianer

Cristina Gregorin hat auf alle diese Fragen eine Antwort. In ihrem 2018 veröffentlichten Band „Ketzerisches Venedig. Zwischen Reform und Inquisition“ lässt sie Venedig zur Zeit der Reformation lebendig werden. Eingebettet in die wichtigsten Informationen zu Geschichte, Bedeutung der venezianischen Republik in Europa, ihrer politischen Situation und ihrem geistlichen Leben erzählt Gregorin von Venedig als Stadt der Bücher. Sie beschreibt wie die Venezianer die Ideen Martin Luthers aufnahmen und wie sich diese neben Inquisition und Repression behaupteten.

Als Schwergewicht der europäischen Buchindustrie war Venedig ein fruchtbarer Landepunkt für Luthers Ideen, die von den Menschen hier interessiert und begeistert aufgenommen wurden. Die Möglichkeit, religiöse Texte erstmals in der eigenen Muttersprache lesen zu können (oder von Freunden vorgelesen zu bekommen), schlug vor allem in der gebildeten Mittelschicht und Handwerkerkreisen ein wie eine Bombe.

Noch bevor Bücher Luthers Lehre bekannt machten, erfuhren die Venezianer aus Predigten von den neuen Ideen. Zuhören konnten ihnen jeder, denn sie wurden unter freiem Himmel wie dem Campo Santo Stefano gehalten. Auch nach der Papstbulle gegen Luther hatten die Prediger in Venedigs Kirchen eine größere Freiheit zu sprechen und erreichten Menschen aller Schichten. Die neue Art zu predigen und die Bücher führten zu einem Kulturwandel, so Gregorin.

Wie in den folgenden Jahrhunderten die Gesandten ihren reformierten Glauben in Venedig leben konnten und vom Leben der zahlreichen ausländischen Gemeinden in Venedig erzählen die folgenden Kapitel.

Von Attentaten & Luxushandtaschen

Die Einführungskapitel „Hauptstadt“, „Geistiges Leben“ und „Politische Ereignisse“ versetzen direkt in die spannende Zeit des Venedigs des 16. Jahrhunderts, als die venezianische Republik ihre Freiheit gegenüber Rom gekonnt durchsetzte. Der Mönch und Rechtsberater der Regierung Paolo Sarpi, einer der gelehrtesten Männer seiner Zeit, war der Heerführer im sogenannten Krieg der Schriften, in dem Venedig und Kirchenstaat ihren Konflikt austrugen. Dabei blieb es nicht. Von den Attentaten auf den Gelehrten zeugt noch heute ein Denkmal auf dem Campo Santa Fosca, Schauplatz eines der Messerangriffe auf den Mönch.

Wissen wie dieses machen die Lektüre von „Ketzerisches Venedig“ so lohnend. So wird ein Spaziergang durch Venedig spielend zu einem Historienthriller.

Heute shoppen Touristen in der Fondaco dei Tedeschi an der Rialtobrücke Handtaschen, nichtsahnend, dass durch die hier lebenden nordeuropäischen Händler die ersten Schriften Martin Luthers in die Stadt gelangten, um sogleich in die lokale Sprache übersetzt und von den Venezianern verschlungen zu werden. Seit Erfindung des Buchdrucks war die Herstellung von Büchern erschwinglich geworden. Verfügbare Übersetzungen lösten geradezu einen Leseboom aus, dem sich selbst Analphabeten nicht entziehen konnten: sie lernten lesen oder ließen sich vorlesen. Eine Revolution des Geistes hatte eingesetzt. Selbst Handwerker wurden von der Lese- und Diskussionswut erfasst.

Venedig als Stadt der Bücher

In den ersten 20 Jahren des 16. Jahrhunderts war Venedig eines der bedeutendsten Zentren des Buchdrucks in Europa: zur bestehenden Druckindustrie kamen Unternehmergeist, Offenheit für Neues, ein antiklerikaler Geist (oder Sinn für Unabhängigkeit) und vor allem gut ausgebildete Arbeitskräfte wie Übersetzer, Korrektoren, Experten für Druckpressen und andere Handwerker. Im 16. Jahrhundert sollen zwischen 15 und 20 Millionen Bände in den verschiedensten Sprachen in Venedig gedruckt worden sein. (Das entspricht 200.000 Bänden jährlich oder bei einer Auflage von durchschnittlich 500 Bänden pro Titel mehr als einem Titel täglich der in Venedig neu erschien. Soweit meine völlig unwissenschaftliche Kalkulation!)

Papstbulle gegen die lutherischen Schriften, Exkommunikation der Besitzer und Leser der Werke Luthers in den venezianischen Kirchen, Bücherverbrennungen, Bußen der Inquisition gegen Buchhändler sowie Zensur und Publikationsverbote unliebsamer Autoren führten zum Zusammenbruch der Buchindustrie in Venedig. Am Ende des 16. Jahrhunderts waren von 150 Druckerpressen nur 34 übrig geblieben.

Von der Kunst des Reisens

Europäischer Geschichte, venezianischer Lokalgeschichte oder Einsichten und Wissen zu Kunsthandwerk und Buchdruck mischt die Autorin geschickt Adressen und Orte im heutigen Venedig bei (wunderbar um alte Karten und Lithografien ergänzt). Bei der Lektüre wird schnell klar – Cristina Gregorin ist ein Profi. Sie weiß, wie man Gäste Venedigs auf Touren unterhält, durch enge Gassen lotst ohne dabei ihre Aufmerksamkeit zu verlieren! Seit 1991 führt Gregorin Gäste durch Venedig (www.slow-venice.com) und setzt dabei auf langsames bewusstes Reisen, das ein Einlassen auf die Stadt erst ermöglicht, in der sich knapp 59.000 Einwohner gegenüber 20 Millionen Touristen jährlich behaupten müssen. (Wie das geht, werde ich sie persönlich fragen müssen, denn es scheint mir unmöglich!)

Norbert Heyls zahlreiche Fotografien im Band fangen wunderbar den Zauber Venedigs ein, den auch bröckelnde Fassaden nicht verschwinden lassen.

Gläubige & ungläubige Venedigfans, lest!

Cristina Gregorin schafft es spielend, mich Religionsbanausin auf eine Reise ins Ketzerische Venedig zu schicken. Ich folge ihr gern durch die Geschichte der Buchindustrie, den Predigern auf lutherischen Pfaden und den Diskussionsgruppen, an die Orte und in die Familien der ausländischen Gemeinden und an die Orte der Justiz (es ging schließlich um das Seelenheil und den ewigen Aufenthaltsort nach dem Tod). Die Autorin überrascht mit interessanten Informationen und die mitgelieferte Geschichte erhellt das Gesagte und beschwert nichts. Sie hat sich mit diesem Band als erstklassige Venedigführerin empfohlen und steht auf meiner Wunschliste für einen Venedigbesuch. (Der kommt bestimmt!)

Informationen zum Buch

Ketzerisches Venedig Titel

Christina Gregorin und Norbert Heyl: Ketzerisches Venedig: Zwischen Reformation und Inquisition.* 1. Auflage 2018. Claudius Verlag. 128 Seiten. Durchgehend vierfarbig bebildert. Hardcover mit Schutzumschlag. ISBN 978-3-532-62815-7. 20 Euro.

 

 

 

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