Die Kirche Il Redentore in Venedig, die Villa La Rotonda in Vicenza und die Ponte Vecchio in Bassano del Grappa, Venetien – Architekturfans verehren diese drei einzigartigen Bauwerke und ihren Schöpfer Andrea Palladio, Stararchitekt der Renaissance. Alle anderen haben Palladios Architektur zumindest gesehen, denn sein Einfluss ist selbst in Amerika sichtbar (siehe georgianischer Stil der Kolonialbauten). Wer gern neugierig hinter die Kulissen der Bauwerke sieht und mehr über die Zeit ihrer Entstehung erfahren will, dem empfehle ich die Palladio-Aldinen. Mit den leichten Bänden im Taschenformat gelingt die Zeitreise in die Renaissance auf den Spuren Palladios wunderbar.
Biografie & Reiseführer in einem – die Kombination macht’s!
Vorausgesetzt sind Interesse an Geschichte und Lebensart im Italien der Renaissance und eine Reise nach Venetien. Aber wer schippert nicht gern durch Venedigs Kanäle oder entlang des Brentakanals? Ob die Serenissima selbst oder deren Hinterland Terraferma in Venetien oder die Städte Verona, Padua, Vicenza, Brescia – auf den Spuren Palladios haucht Autorin Ulrike Einhorn dessen Werken Leben ein. Sie beschreibt Palladios Freunde und Familie, erzählt von der Ausbildung des zukünftigen Architekten und stellt Gönner und Mäzene vor. Den biografischen Teil komplettieren Texte zu Orten, Landschaften und Ereignissen seiner Zeit des 16. Jahrhunderts, einer Welt voller Innovation in Handwerk und Landwirtschaft, voller Ränkespiele und Machtpoker, Intrigen und Konflikte.
Während in kurzen und pointiert geschriebenen Texten die Renaissance im Veneto aufersteht, erfährt der Leser, wo Palladio aufwächst, was ihn prägt, wo er seinen Beruf erlernt und wie er seine Förderer kennenlernt. Eichhorns Texte bringen uns die Person des Palladio nah, machen es uns einfach, ihm in seine Zeit zu folgen. Als Leserin bleibe ich nicht mit kunstwissenschaftlichem Wissen überhäuft (und eingeschüchtert) zurück, sondern vollziehe Palladios Leben nach und kann tief in seine Zeit eintauchen.
Selbst die Dogen Venedigs werden durch ihre lebendig geschriebenen Porträts nahbar, auch wenn sie nur aus einem Gemälde von Giacopo Tintoretto oder Giovanni Bellini schauen. Nachdem ich weiß, dass einer an der Schlacht von Lepanto teilgenommen hat oder ein anderer Geld unterschlagen hat, schaue ich prüfend in sein Gesicht: ah, der Ausdruck eines furchtlosen Helden oder nee, noch ein korrupter Amtsträger. Ob greis, weise oder prunkvoll – die Kombination aus Porträt, biografischen Details und Geschichte lassen mich die Gesichter erforschen und den Menschen wahrnehmen.
Begleiter für langsames Reisen
Und welchen Unterschied macht es, wenn ich anstelle (oder zusätzlich) architektonischer Details Entstehungsgeschichte und Motive der Erbauer kenne? Wenn ich weiß, warum der Bauherr sein Gebäude in Auftrag gab, und was dabei Verzögerungen hervorrief oder schiefging, öffnet sich vielleicht eine Tür, so als ob ich die Besitzer kennen würde. Jedenfalls ändert sich mein Blickwinkel auf ein Gebäude auf einmal. Er wird persönlicher.
So wird die Palladio-Aldine zum perfekten Begleiter für neugierige Entdeckungsreisende im Bel Paese. Vorausgesetzt sie schätzen ein langsames Reisen auf der Suche nach Seele und Leben in den verblassten und oft verlassenen Villen am Brentakanal oder den bröckelnden, an Luxuskonzerne verramschten Fassaden in der Serenissima. (Entschuldigt den Ausbruch.) Schauen wir einmal genauer hin.
Andrea Palladios Leben im Veneto – Band 1 der Palladio-Aldinen
In vier Kapiteln führt Eichhorn gekonnt durch das Leben Palladios. An den Orten seines Lebens und Wirkens lässt sie die Weggefährten und Zeitsituationen lebendig werden. Im ersten Kapitel „An der Wiege der Gelehrten“ beschreibt sie Kindheit und Ausbildung in der Universitätsstadt Padua. Stellt die Städte Padua, Aquileia und die Landschaft der Terraferma vor. Zum Netzwerk in dieser Periode gehören die Steinmetze und Bildhauer, bei denen Palladio sein Handwerk erlernte und in deren Metier er seine ersten beruflichen Schritte machte.
Das zweite Kapitel „Im Kreis der Kreativen“ erzählt aus den Jahren als Steinmetz in Vicenza, von der Familiengründung und den Vorbildern aus Antike. Das dritte Kapitel ist der Terraferma gewidmet, dem Hinterland von Venedig, wo die Adligen Landwirtschaft betrieben und sich prunkvolle Villen errichteten.
Im Mittelpunkt des vierten und letzten Kapitels „Im Licht der Lagune“ steht Venedig, wo Palladio Baumeister für den Klerus war. Nicht zuletzt geht es ganz lebensnah um Geld: Ducati, Scudi und Lire erinnern daran, dass die globale Handelsmacht Venedig über Jahrhunderte die stabilste Währung der Welt prägte.
Ulrike Eichhorn – von der Architekturmittlerin zur Reiseführerin
Die Autorin der Palladio-Aldine Ulrike Eichhorn ist selbst Architektin. Nach beruflichen Stationen in Hannover, Chicago und Berlin gründete sie ein Atelier für Architekturvermittlung. Grundlage hierfür war ihre Tätigkeit als Vorprüferin von Bauwettbewerben in Berlin. Damit sind die Autorin und ihr Studienobjekt Kollegen. Mit seinem Hauptwerk „I quattro libri dell’architettura“ erklärte Palladio auch Laien die Architektur. Er ging darin detailliert auf bautechnisches Wissen ein, erläuterte Konstruktionen und vermittelte historische Bezüge. Vollgepackt mit Detailwissen, dienten die I quattro libri als Lehrbuch einer klassischen, von der Antike beeinflussten Architektur. Eichhorn geht ähnlich detailorientiert an ihr Projekt Andrea Palladio heran. Sie stellt Freunde, Förderer und Familie Palladios, stellt sein Netzwerk in den Mittelpunkt ihres Forschungsinteresses. Dabei bezieht sie die Frauen im Leben Palladios bewusst mit ein, auch wenn diese vor allem im Hintergrund wirkten.
Für ihre Recherchen reiste Eichhorn nach Vicenza, Padua, Venedig und Rom. Studierte Dokumente und Stadtpläne in Archiven und Museen und besuchte Palladios Werke. Ihr Versuch, den Architekturstar Andrea Palladio und seine Zeit lebendig werden zu lassen, gelingt der erfahrenen Architekturvermittlerin. Sie schafft dabei den Spagat zum Reiseführer, indem sie Personentafeln im Text verankert, das Buch geschickt strukturiert und durch gut platzierte Wiederholungen den Leser sich nicht verlaufen lässt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Dass die Autorin beim Aufdecken der Einflüsse und Wurzeln Palladios Grundlagenforschung betreibt, bleibt dabei fast unbemerkt, so kurz und pointiert sind ihre Texte, die ganz wunderbar ohne überflüssige Information auskommen.
Drei Bände Palladio im Format der Aldine (Was ist das?)
Die Palladio-Aldinen sind auf drei Bände ausgelegt, die beiden letzten Bände erscheinen im Herbst 2017. Der zweite Band ist Palladios Wirken in Rom gewidmet, der dritte Band eine Werkschau. Im Format folgen die Bände ihrer Funktion: Die Aldine ist ein leichter Band in kleinem Format. Er passt in die Tasche und ist ein idealer Reisebegleiter.
Was hat all das jetzt mit meiner Fahrt auf dem Brentakanal oder meiner romantischen Reise nach Venedig zu tun? Stell dir vor, es ist Mai oder Oktober und es sind keine großen Touristengruppen oder Kreuzfahrer mit dir unterwegs. Du hast Muße (und Platz) anzuhalten und wünschst dir, die Gebäude fingen an zu erzählen. Dann ist die leichte und handliche Palladio-Aldine genau richtig für dich, nimm sie aus der Tasche und höre zu …
Mein Fazit – Empfehlung!
Als neugieriger Architekturlaie bin ich Wissen aufgeschlossen, habe aber Angst, in Schwerverdaulichem verloren zu gehen! Diese Gefahr besteht bei der Palladio-Aldine nicht. Die Texte sind informativ, aber überfordern Laien nicht. Besonders gut gefällt mir die Gestaltung des Buches in „Lesehäppchen“. Wer mehr will, geht zurück zum Buffet. Vertiefende Kurzbiografien folgen der Erwähnung einer Person im Fließtext. So lässt sich die Lektüre jederzeit unterbrechen und wieder aufnehmen. Wobei die gewünschte Informationsfülle vom Leser selbst gesteuert werden kann. (Und der Appetit beim Essen kommt!)
Auf die Frage, ob sich die Lektüre der Steinmetzbiografien lohnt, kann ich sagen: auf jeden Fall! Zunächst einmal waren die Steinmetze keine reinen Handwerker oder Bauarbeiter, sondern als Bauunternehmer und Künstlerpersönlichkeiten Leiter großer Werkstätten. Ihr Wirken gab Orten wie Venedig ein unverwechselbares Gesicht. Das Wissen um dieses Wirken gibt einer wunderschönen und surrealen Kulisse wie Venedig eine lebendige Ebene – mit Geschichten von Kunstverstand und Mut, Unterschlagung und Korruption.
Schritt für Schritt und Seite für Seite zieht Eichhorn ihre Leser in die Faszination um Andrea Palladio hinein, die um sich von ihr anstecken zu lassen bestenfalls Neugier benötigen. Warum ihr also nicht nach Venetien folgen, auf den Spuren Andrea Palladios? Es könnte die interessanteste Entdeckungsreise eines Italienurlaubs werden.
Bibliografie
Ulrike Eichhorn: Palladio-Aldinen VOL. 1: Palladios Leben 1508-1580 im Veneto*
2017, Originalausgabe, Broschur, 488 Seiten, 155 Abbildungen. Edition Eichhorn. ISBN: 9783944377100. 48 Euro. Erschienen am 12. Mai 2017.
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