Sacro Monte di Orta – Eine Zeitreise

Die Nachmittagssonne taucht den Boden in schattendurchsetztes goldiges Licht. Sicher halten mich nur die geparkten Autos im Hier und Jetzt. Irgendwo muss ich den Zeitreiseschlitz knapp verfehlt haben. Dieser hätte mich direkt in das 16. Jahrhundert katapultiert. Da war der Berg ein gewöhnlicher Berg auf einer gewöhnlichen Halbinsel mit einer gewöhnlichen Insel davor. Diese ungewöhnlich reizvolle Kombination wurde Ort einer besonderen Idee.

Heiliger Berg – Versuch einer Entschlüsselung

Da die heiligen Stätten in Jerusalem als Pilgerort nicht mehr erreichbar waren, schufen Geistliche und Künstler neue Monumentalanlagen, um die Botschaft ihres Glaubens und ihrer Kirche für alle Menschen intensiv erlebbar zu machen. Sie nutzten die außergewöhnliche Schönheit der Landschaft und legten auf Bergen Gärten mit Kapellen an, jede einer besonderen Botschaft gewidmet.

Sacro Monte Orta San Giulio

Die Figuren in den Kapellen mit ihrem ekstatischen Gesichtsausdruck, erstarrt und verklärt, erscheinen mir fremd. Puppentheater für Erwachsene, szenisches Spiel mit lebensgroßen Terrakottafiguren. Bizarre Szenen: Versuchung des Mönchs durch den Teufel. Ich brauche den Teufel nicht in braun, mit Dreizack und Hühnerfuß. Heute steckt das Teuflische im Detail, in Minen, Magersuchtmodels, Mobbing.

Versuchung durch den Teufel

Diese Bildersprache ist nicht meine Sprache, ist nicht an mich gerichtet. Ich bin nicht einmal katholisch. Von Kapelle zu Kapelle laufend versuche ich mich im Entschlüsseln der Botschaften. Zunehmend gefällt es mir, mich zu testen. Was lese ich in den Szenen? Was verstehe ich? Was weiß ich schon? Der Heilige Berg von Orta (Sacro Monte di Orta) ist dem Leben des Franz von Assisi gewidmet. In zwanzig Kapellen stellen Terrakottafiguen und Fresken Situationen aus dessen Leben nach. Die Predigt an die Vögel ist nicht dabei. Doch auf dem Weg zum Berg fand ich dafür diese moderne Bronzestatue.

Franz von Assisi - Verbunden mit allen Geschöpfen

Mir gefällt mein Bild von ihm, wie er vor den Vögeln predigt, hingebungsvoll. Vielleicht probte er anfangs sein rhetorisches Talent. So spürte er seine Verbundenheit mit allen lebendigen Geschöpfen und konnte sie weitertragen. Er lebt in Armut, als der Kapitalismus erstmals Fahrt aufzunehmen beginnt. Er ist geschickt und klug – der größte Star der katholischen Kirche. Dieser Extremist und Verrückte hat sie wahrscheinlich gerettet. Seine Lehre ist ein Affront, denn sie stellt sich gegen alle Missstände der damaligen Zeit: den Reichtum der Kirche und das Abwenden von der Botschaft des Glaubens.

Franz von Assisi – Ein Verrückter rettet die Kirche

Als junger Mann träumte Franz von Assisi von einer Karriere als Ritter, liebte teure Kleider und Partys. Er war reich und ehrgeizig. Nach der Teilnahme am Krieg zwischen Assisi und Perugia und Gefangenschaft kehrte er traumatisiert und krank nach Hause zurück. Er betet viel und bestiehlt seinen Vater, einen reichen Tuchhändler, um eine Kirche wieder aufzubauen und Armen zu helfen. Sein Vater bringt ihn vor das bischöfliche Gericht. Dort entkleidet er sich und sagt sich in einem dramatischen Auftritt von seiner Familie los, bricht mit seinem alten Leben und beschließt fortan in Armut zu leben und sein Leben Gott zu widmen.

Dieser Schritt entsprach dem Zeitgeist. In einer neuen Armutsbewegung sammeln sich zahlreiche Menschen, um gegen den Reichtum der Kirche zu protestieren, welcher nicht dem Evangelium entspricht. Die Kirche verfolgt diese Häretiker mit Gewalt. Franz ist ein charismatischer Typ, einnehmend, attraktiv und sehr ehrgeizig. Als er in der Gegend um Assisi zu predigen beginnt, schließen sich ihm junge Männer an, um mit ihm zu leben. Die Menschen nennen ihn zuerst pazzo, Verrückter. Sie konnten nichts mit ihm anfangen. Zu krass ist der Gegensatz zu anderen Botschaftern der Kirche. Doch schnell wird er zu einem gefeierten Wanderprediger weit über die Grenzen Assisis hinaus. Er ist ein talentierter Entertainer, tanzt und singt und ist aufrichtig überzeugt von seiner Botschaft. Diese Haltung lässt sich nicht vortäuschen. Die Menschen nehmen ihn an. Er lebt, was er predigt. Er geht barfuß. Er versorgt Leprakranke und gibt ihnen Unterkunft.

Seine Gemeinschaft wächst weiter und er entschließt sich, in Rom die Anerkennung als Orden zu erwirken. Aber die Inhalte seiner Predigten ähneln denen der Häretiker, die die Kirche mit dem Schwert verfolgt. Warum sollte die Kirche für ihn einen Unterschied machen? Es gelingt ihm, die Aufmerksamkeit des Papstes zu erringen. Als dieser ihm zuhört, begreift er, welches Potenzial zur Erneuerung der Kirche in dem Bettelmönch steckt. Er erkennt dessen Potenzial, die Massen zu bewegen und in der Kirche zu halten. Er sieht dessen Fähigkeit, frischen Wind in die Kirche zu bringen und das Feuer für die Botschaft des Evangeliums neu zu entfachen.

Anerkennung des Papstes

Franz kann sich nun dem Thema widmen, das ihn seit Langem beschäftigt: der Krieg. Er fasst den kühnen Plan, auf dem vierten Kreuzzug als Prediger teilzunehmen. Entweder er bekehrt den Sultan und wendet so weiteres Blutvergießen ab oder er stirbt als Märtyrer. Nur mit einem Ordensbruder geht Franz durch das Niemandsland der Front zum Sultan.

Beim Sultan

Wider Erwarten hört dieser ihm aufmerksam und respektvoll zu, doch bekehren lässt er sich nicht. Krank und erfolglos kehrt Franz von Assisi vom Kreuzzug zurück. Nach dieser Niederlage zieht er sich in die Einsamkeit zurück. Mit 44 Jahren stirbt er im Kreis seiner Brüder. Bereits zwei Jahre nach seinem Tod wird er heiliggesprochen. Die Kraft seiner Botschaft ist ungebrochen.

Heiligsprechung

Nützliche Links Sacro Monte di Orta

 

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Stefanie lebt mit italienischer Familie am Lago Maggiore, im Norden des Piemont. Einen Ort entdecken heißt alle Sinne nutzen – sehen, hören, zuhören, berühren, schmecken. Die Sprache sprechen kann Wunder bewirken oder ein Tanz zu lokaler Musik!

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