Wenn Städte Seelen hätten, hier würde die mailändische wohnen. Hinter einer rostroten Fassade aus verwittertem Backstein. „Vedi Sant’Ambrogio e capisci cos’è Milano.“ Wer Sant’Ambrogio gesehen hat, verstehe Mailand, schwört Kunstkritiker Philippe Daverio. Ein Besuch in der Kirche Sant’Ambrogio in Mailand ist eine Zeitreise an ihre christlichen Ursprünge. Sie ist die spirituelle Heimat der Mailänder und ein Schlüssel zum Verständnis Mailands. Der Grund dafür liegt in die Krypta gebettet: Ambrosius – Bischof, Kirchenvater, Stadtpatron.
Ein Besuch in Sant’Ambrogio
„Heute schieben sich die Gruppen unter meinen Achseln durch, so viele sind unterwegs“, lacht Federica. Sie macht Besuchern Platz und erklärt gleichzeitig geduldig die Szenen auf dem reliefgeschmückten Sarkophag. Während wir die goldene Altarverkleidung – ein Comic aus karolingischer Zeit – fotografieren (wann kommt man schon so nah an den Altar heran?), entschlüsselt sie die darauf gezeigten Geschichten aus dem Leben des Ambrosius.
Die roten Umrandungen im Deckenmosaik der Apsis? Zeigen die originalen Fragmente. (Kriegszerstörungen hatten großen Schaden angerichtet.)
Unsere Besichtigung endet in der Kapelle San Vittore in Ciel d’Oro. Auf dunkel funkelndem Goldmosaik schaut der Heilige Viktor von der Decke. (Dass es so dunkel ist, zeigt dass es sehr alt ist.) Ambrosius Porträt an der Nordwand zeigt ihn mit schräg stehenden Augen mit ernstem Blick. Die Ambrosiana fasziniert mich und am Ende meines Besuches steht fest: ich werde zur Messe wiederkommen.
In den beiden Seitenschiffen der dreischiffigen Basilika herrscht ständiges Kommen und Gehen. Kinder tollen herum, lachend, streitend. Die Bänke im Mittelschiff sind alle besetzt. Über allem liegt eine dicke Schicht incenso – Weihrauch. Ununterbrochen schwenken die Ministranten ihre Weihrauchfässchen. Meine protestantisch-agnostische Nase rebelliert, doch dank des eindringlichen Chorgesangs sinke ich wie hypnotisiert auf eine Bank und lausche.
Wer war Ambrosius?
Das frühe Christentum im vierten Jahrhundert fasziniert wohl eher Kirchenhistoriker. Doch mich interessiert an dieser Zeit, wie damals die Grundsteine für unsere heutige Kultur gelegt wurden. Oft spielten herausragende Persönlichkeiten eine Rolle – wie Ambrosius. Der Vater Präfekt in Gallien entstammte Ambrosius einer wohlhabenden, adligen Familie. Zusätzlich zur Ausbildung in römischem Recht – mit Ausflügen in Philosophie und Theologie – beherrschte er Griechisch, kannte die klassische Literatur. Schon zu Beginn seiner Laufbahn erwies sich Ambrosius als geschickter Anwalt und kluger Taktiker. Um das Jahr 370 wurde er zum Provinzstatthalter in Mailand ernannt, kurz darauf am 7. Dezember 374 zum Bischof geweiht. Seine überraschende Wahl war möglich, weil sich die herrschende Strömung in der Kirche gerade auflöste. Der erste aristokratische und vermögende Bischof Westroms stiftete sein Vermögen der Kirche. Als Wohltäter verwandte er es für milde Gaben und Bauprojekte wie die heute nach ihm benannte Kirche Basilica Martyrum oder Ambrosiana.
Leben in Ambrosius Mailand
Tod des Kaisers, eine verlorene Schlacht: im vierten Jahrhundert durchlebte das Weströmische Reich eine Krise. Die Umbruchssituation zog ein Machtvakuum nach sich. (Mir kommt die Wendezeit in der DDR in den Sinn, mit ihren friedlichen Demonstrationen, der Aufbruchsstimmung über allem und dem Gemeinschaftsgefühl, das sich für immer einprägte.)
Mailand, die stattliche römische Provinzhauptstadt mit Theater, Amphitheater, Circus und Thermen war zwischen 286 und 402 Kaisersitz Westroms – der Bischof agierte also im Zentrum der Macht. Eine sichtbar christliche Stadt war sie nicht. Kaum zum Bischof geweiht, initiierte Ambrosius eine rege Bautätigkeit, die er aus seinem Privatvermögen finanzierte. Fünfzehn Kirchen entstanden und prägten fortan Mailands Aussehen als christliche Stadt.
Und die Menschen? Anders als Rom verfügte Mailand über keine große Aristokratie oder Bürokratie. Stattdessen lebten dort zahlreiche konkurrierende Gruppen mit unterschiedlichem Hintergrund. Die Kirche gab allen einen sinnvollen Ort der Zusammenkunft, die Unterschiede der Stände abmildernd. Mit Wohltätigkeit, entschiedener Führung und dem außerordentlichen Reichtum seiner Predigten baute Ambrosius eine direkte Verbindung zu seiner Gemeinde auf, die ihn im Kampf mit dem Kaiserhof um die Basiliken tatkräftig unterstützen würde.
Kampf um die Basiliken
In der Karwoche des Jahres 386 eskalierte der seit dem Vorjahr schwelende Konflikt zwischen Bischof und Kaiserhof um die Nutzung einer Basilika für Gottesdienste der Arianersekte, mit denen die Kaisermutter sympathisierte, und Nichtkatholiken. Ambrosius weigerte sich, der kaiserlichen Aufforderung zur Freigabe einer Kirche nachzukommen. Das Volk der Gläubigen unterstützte ihn dabei. (Ambrosius unterband dabei Radau und Ausschreitungen.) Die die Basilika umstellenden Soldaten liefen zum Bischof über und besuchten lieber den Gottesdienst.
Der Bischof vertrat seine Position besonnen und furchtlos. Mit Erfolg. Er etablierte erstmalig die Freiheit der Kirche gegenüber dem Staat: Der Kaiser ist nicht Herr, sondern Sohn der Kirche. Er muss sich auf weltliche Angelegenheiten beschränken und dem Bischof den kirchlichen Bereich überlassen.
Ambrosius Hymnen
Während der Belagerung der Kirche führte Ambrosius den Gesang selbst verfasster Hymnen während des Gottesdienstes ein – eine liturgische Innovation! (Natürlich hatte Ambrosius den Kirchengesang nicht erfunden, aber er war in Vergessenheit geraten.) Gemeinsamer Gesang verbindet und versöhnt – und schuf im dramatischen Moment der Belagerung Verbundenheit und Stärke unter den Gläubigen. In vierzehn (erhaltenen) Hymnen fasste Ambrosius komplizierte theologische Ideen in auswendig lernbare Verse.
Ein Geniestreich, denn bei ihrem Gesang wurde jeder Sänger, jede Sängerin auf einmal vom Schüler zum Lehrer.
Die vielschichtigen Hymnentexte sind echte Kunstwerke: literarische und theologische Ebene und lassen sich unter verschiedenen Gesichtspunkten entschlüsseln. Blitzschnell verbreiteten sich Ambrosius Hymnen im Reich bis nach Nordafrika, Spanien und Gallien. Weil nachfolgende Bischöfe den ambrosianischen Gesang eisern verteidigten, ist er noch heute in Mailand zu hören, wie in Sant’Ambrogio.
Der größte Schatz Mailands?
Als die letzten Orgelklänge verhallt sind, folge ich dem Strom der Gläubigen in die Krypta. Hier liegen sie feierlich aufgebahrt: Kirchenvater Ambrosius im kostbaren Bischofsornat, neben sich die Märtyrer Protasius und Gervasius. Ambrosius hatte sie entdeckt und ihre Gebeine in seine neue Kirche überführt, um deren Bedeutung zu festigen. So erfand er nebenbei die Verehrung der Märtyrer und verpflichtete sie zu Schutzzwecken – das Patronat war geboren.
Gedankenvoll betrete ich das von der Mittagssonne beschienene Atrium. Auf einigen Säulenkapitellen sind zwei Tiere im Kampf zu sehen: das Gute bekämpft und siegt über das Böse. Bei seiner Entstehung im Mittelalter gehörten Mauer und Tor zur Stadtbefestigung.
Ambrosius Wagemut und Erfolg in Konfrontationen mit dem kaiserlichen Hof sind legendär. Zur Zeit der Konflikte jedoch war der Erfolg keineswegs garantiert. Gegen einen Kaiser hatte Ambrosius als erster Bischof in solch entschiedenem Ton seine Stimme erhoben. Mit Unterstützung seiner Gemeinde als wichtigstem Stützpfeiler.
Ambrosius Vermächtnis ist wohl der wichtigste Schatz der Mailänder. Mit seinen Dichtungen, Melodien und Kirchen hat er das christliche Mailand gestaltet.
Indem er seiner Gemeinde Hymnen voller biblischer Bilder dichtete und diese im Gottesdienst anstimmen ließ, erhob er alle sie Singenden zu Lehrern und Verkündern ihres Glaubens, ob sie lesen konnten oder nicht.
Die Stadt erinnert bis heute jedes Jahr daran. Am 7. Dezember eröffnet die Saison am Opernhaus Scala, beginnt der Weihnachtsmarkt O Bej, O Bej und werden Wohltätige mit einer goldenen Münze mit dem Konterfei des Bischofs geehrt.
Führungen in Sant’Ambrogio bietet Milanoguida. Ich danke Federica für die interessante Führung!