Turin ist angeblich der Austragungsort eines Kampfes zwischen Gut und Böse, denn die Stadt soll gleichzeitig auf einem geografischen Dreieck schwarzer und weißer Magie liegen. Einige Turiner würden den Teufel anbeten. Ja sogar die Pforten zur Hölle befänden sich mitten in der Stadt. Satanismus und Magie – wie passt das zu den Olympischen Winterspielen, zu Fiat und Slow Food? Das frage ich mich und muss lachen. Okkultem bin ich eher wenig aufgeschlossen. Für mich gilt: lieber Archäologie und Ägyptologie als Alchemie und Exorzismus. Doch Turin, die elegante Savoyer-Hauptstadt soll Italiens Zentrum des Okkulten sein. Ich gehe auf Spurensuche im Zentrum Turins: Wo steckt hier der Teufel und was ist dran am Okkulten in Turin?
Magisches Turin
Turin als beliebter Ort für Teufelsanbetungen? Für mich steht die Stadt bisher für die italienische Automobilindustrie, das Ägyptische Museum und barocke Architektur. Doch Turin, versichert man mir, gelte als magische Hauptstadt Italiens. Addirittura?! (Wirklich?!) Als Nichtesoterikerin halte ich meine Wissenslücke für vertretbar. Fakt ist, dass ein magisches Turin häufig beschworen wird. Der Heilige Gral soll sich in der Stadt befinden und die Pforten zur Hölle ebenfalls. Oft ist von magischen Dreiecken die Rede, vom schwarzen, das die Stadt gemeinsam mit London und San Francisco bilden soll und vom weißen Dreieck aus den Städten Turin, Prag und Lyon. Mit den Dreiecken bin ich überfordert – keine Ahnung, was das bedeuten soll. Belastbar scheint mir nur die Vermutung, dass es in Turin ein wenig mehr Esoteriker und Liebhaber des Okkulten zu geben scheint, als anderswo. Liegt es am Nebel, der sich im Winter aus der Poebene über die Stadt schiebt? Suchten die arbeitsamen Menschen der Industriestadt nach Ausgleich und Sinn im tristen Arbeitsalltag?
Schon bevor Turin zur Industriemetropole Italiens wurde, faszinierte sie Schriftsteller und Wissenschaftler. Der Kunstphilosoph Roberto Carretta bescheinigt seiner Heimatstadt literarischen Charakter. Durch ihre Lage an der Flusskreuzung dreier Flüsse und vor der Kulisse des Alpenbogens verfügt sie über eine natürliche Magie. Carretta nennt drei Beispiele: Erasmus von Rotterdam kam als junger, an Alchemie faszinierter Student und sattelte in Turin auf Theologie um. Jean-Jacques Rousseau bekehrte sich in Turin zum Katholizismus. Friedrich Nietzsche verlebte seine letzen klaren und vielleicht auch einige glückliche Tage in der Stadt.
Kirche San Lorenzo – Die Mystik der Geometrie
Am besten mache ich mir selbst ein Bild. Ich beginne meine Erkundung des mystischen Turins mit einer Stadtführung im barocken Zentrum. Auf der Piazzetta Reale (Königsplatz) liegt der Eingang zur Kirche von San Lorenzo, die nur durch ihre achteckige Kuppel mit Laterane auffällt, weil sich die Vorderseite der Kirche harmonisch in die sie umgebenden Gebäude einfügt. Die ursprünglich geplante Fassade wurde nie umgesetzt. Das barocke Juwel wurde von 1668 bis 1687 von Architekt Guarino Guarini erbaut.
Der Theatinerpater Guarini schuf durch konvex begrenzte Ecknischen aus einem quadratischen Grundriss ein Achteck. Auf dem Schlusssims über diesen Ecknischen ruhen Bögen über denen Zwickel aufsteigen. Die Kuppel ist aus acht Rippen konstruiert, von denen je zwei Paare parallel verlaufen und eine Sternform bilden. Seine Ausbildung als Mathematiker half Guarini, mittels streng geometrischer Muster seiner Architektur in geradezu mystische Räume zu verwandeln. Wer möchte, kann jedoch in der Kuppel auch die Gesichter von acht Dämonen erkennen …
Piazzetta Reale, Palazzo Reale und Palazzo Madama
Ein Platz zwischen zwei Schlössern ist die Piazzetta Reale (Königsplatz) zwischen Palazzo Reale (königliches Schloss) und Palazzo Madama. Der Platz ist das Ergebnis einer sorgfältigen Neugestaltung der Stadt als barocke Residenzstadt. Bei der Planung der rechtwinkligen Straßenzüge orientierten sich die Stadtplaner am Straßenraster der Römer. An ihnen wurden die Häuserzeilen mit monumental gegliederten Fassaden regelmäßig angelegt. Ausgangspunkt für die zentralen Straßenachsen Via Roma, Via Po und Via Garibaldi ist das Königliche Schloss Palazzo Reale und die Piazza Castello. Die Boulevards enden in bereits von Weitem sichtbaren Plätzen, die so wirksam in Szene gesetzt werden.
Ich schaue in den grauen Turiner Märzhimmel und versuche dem Kampf zwischen Gut und Böse nachzufühlen. Genau hier, am Tor zwischen Piazzetta Reale und Piazza Castello mit den Statuen von Castor und Pollux soll die Grenze zwischen guter und dämonischer Stadt verlaufen, die Piazzetta Reale das Zentrum der weißen Magie sein. Der Himmel lullt die Stadt in ein freundlich, gemütliches Grau und mein Magen knurrt, sonst geschieht nichts. Ich drehe mich zum Palazzo Madama um. Was war da los?
Der Palast besteht auf der Rückseite aus einer backsteinernen Zwingburg, die auf dem römischen Osttor der Stadt aufbaut und präsentiert von vorn eine der schönsten Barockfassaden der Stadt. Die „Madama“ ist Maria Christina von Frankreich, Witwe von Viktor Amadeus I., die im Palast lebte. Sie war als Herzogin Regentin von Savoyen, da sie für ihre minderjährigen Söhne die Herrschaft übernommen hatte. Sie band das Herzogtum eng an Frankreich an, sanierte den Haushalt Savoyens und machte sich in Turin als engagierte Bauherrin verdient. Die Gestaltung der Piazza San Carlo und die Errichtung der Kirche Santa Cristina gehen unter anderem auf sie zurück.
Maria Cristina muss eine faszinierende Persönlichkeit gewesen sein. Sie jonglierte Macht, Regentschaft, Konflikte und Mutterschaft und fand Zeit für Liebesbeziehungen. Neben ihrem Wirken als kluge Regentin wird ihr ein zweites Gesicht nachgesagt, als Unterstützerin des Okkulten, in deren Palast Palazzo Madama die Grotten zu alchimistischen Experimenten genutzt worden seien. Auch der Geist der Savoyerherzogin soll noch immer seine Runden im Palast drehen und in Erinnerungen an die durchtanzten Feste schwelgen. Offene Fragen muss das ungeklärte Verschwinden einiger ihrer Liebhaber hinterlassen haben. Kurzum, einige Legenden umwehen diese Herrscherin, die sich nahm, was sie wollte, eher untypisch für die Frauen im 17. Jahrhundert.
Die bedeutendste Ikone – Das Turiner Grabtuch
Der heilige Gral und die Pforten der Hölle in einer Stadt – ist das Unfug, frage ich mich? Was steckt dahinter? Ein Raum in der Kirche San Lorenzo ist dem Turiner Grabtuch (sindone), der bedeutendsten Turiner Ikone gewidmet. Auf dem 4,36 m langen und 1,10 m breiten Leinentuch sind die Abdrücke von Vorder- und Rückseite des Körpers eines etwa 1,80 m großen bärtigen Mannes, gezeichnet von zahlreichen Verletzungen, zu sehen. Die Verletzungen entsprechen denen, die bei einer Kreuzigung wie sie die Römer durchführten, entstanden. Das Tuch wurde erstmals im 14. Jahrhundert erwähnt. Eine Kohlenstoffdatierung von 1988 verweist die Herkunft des Tuches auf das 12. bis 13. Jahrhundert. Aus dem 14. Jahrhundert, aus dem weitere künstlerisch gestaltete Grabtücher überliefert sind, stammt auch eine Maltechnik auf Leinen mit Temperafarben, die zu transparenten Darstellungen führt.
Ich hatte natürlich schon vom Turiner Grabtuch gehört und das es auf das Mittelalter datiert worden sei. Sara, unsere Stadtführerin von Welcome Piemonte erklärt uns, welche Zweifel an der Datierung bestehen und welche Fragen noch immer offen sind. Zugegeben, die Wirkung des Abbildes (des fotografischen Negativs) ist überwältigend! Die offen gelassen Frage, ob es sich beim Turiner Grabtuch „nur“ um ein künstlerisches Meisterwerk handelt, oder um ein wirkliches Grabtuch aus der Zeit Jesus tut seiner Wirkung auf mich keinen Abbruch. Die Verbindung mit dem Heiligen Gral, einer weiteren bis in die heutige Zeit lebendigen Legende (siehe Dan Browns “Sakrileg”), lässt sich mit Blick auf die mittelalterliche Dichtung beantworten. In einer mittelalterlichen Deutung, welche auf dem apokryphen Nikodemusevangelium basiert, wird das Grabtuch mit dem Heiligen Gral gleichgesetzt.
Dank und Empfehlung
Von den unterirdischen Gängen und Grotten, über die ägyptischen Wurzeln Turins und Bildern von Teufeln und Kobolden, die sich dem aufmerksamen Beobachter in der Stadt zeigen, gibt es viele weitere Anhaltspunkte des Mystischen in Turin. Am besten taucht es sich in diese mystische Seite der Stadt an der Seite eines gut informierten Stadtführers ein!
Mit Dank an Sara und Valentina von Welcome Piemonte, deren Stadtführung mich auf den Spaziergang eingeladen und mir die mystischen Seiten Turins nahe gebracht haben. Turin fühlt sich gleich vertrauter an! Ein fantastischer Weg, einen Ort kennenzulernen, führt er doch direkt zu den Menschen und ihren Geschichten.
Stadtführungen in Turin (auch auf Deutsch möglich): Welcome Piemonte (deutsch)
Mehr Lesestoff
- Lesenswerter Text aus dem ZEIT-Archiv über Friedrich Nietzsche in Turin
- Über die Triennale 2009 im Zeichen des Okkulten
- Ungefilterte Erzählung aller Mythen über Turin
- Wer im Internet sucht der findet – Uralte (1986) Spiegelreportage zum Thema