Seit 1986 setzt sich die in Bra gegründete Bewegung Slow Food für den Erhalt des Genusses ein – dafür, unseren Nahrungsmitteln ihren echten Wert zurückzugeben, sowie deren Produzenten, Regionen und lokale Traditionen zu respektieren. Gute, saubere und faire Lebensmittel sind das Ziel von Slow Food – für Konsumenten wie Produzenten. Dabei ist Slow Food keine elitäre Gemeinschaft von Rotweintrinkern, wie der Ursprung im Verein der „Freunde des Barolo“ vermuten ließe. Der umtriebige und charismatische Slow Food-Gründer Carlo Petrini und seine Freunde waren von Anfang an politische Aktivisten, Gewerkschafter, Idealisten, Visionäre, Gitarrenspieler (aber dazu in einem der nächsten Artikel mehr). Die Verteidigung des echten Genusses, die mit dem traditionellen piemontesischen Wein der Könige, dem Barolo, seiner Renaissance und dem Erhalt traditioneller Herstellungstechniken begann, war nur der erste Schritt der Reise. Wem ganz wie dem umtriebigen und charismatischen Petrini der Genuss so am Herzen liegt, der findet im Piemont ein reiches Universum kulinarischer Traditionen, um einen ganzen Eroberungszug zu füttern. Von hier breitete sich die Bewegung auf ganz Italien aus und von dort in viele weitere Länder Europas und Nordamerikas.
Das wird Terra Madre Salone del Gusto 2016
Vom 22. bis 26. September 2016 treffen sich fünf Tausend Delegierte aus 160 Ländern, 800 Aussteller und 500 Terra Madre Lebensmittelgemeinschaften auf der größten Messe für traditionelle Nahrungsmittel weltweit „Terra Madre Salone del Gusto“. Der Salone findet seit 1996 während aller geraden Jahre statt. Seit 2012 läuft parallel das Treffen der Terra Madre- Lebensmittelgemeinschaften, deren herausragende Bedeutung sich nunmehr durch die Voranstellung im vollen Namen des Treffens spiegelt. 2016 finden die Verkostungen, Märkte, Ausstellungen, Konferenzen und Foren an neun verschiedenen Orten mitten im Zentrum von Turin statt. Mit dem Heraustreten auf die Straßen, Märkte und in die Parks der Stadt will Slow Food seine Projekte noch mehr Menschen vorstellen.
Terra Madre Gemeinschaften
Terra Madre Lebensmittelgemeinschaften sind der ganz praktische Weg innerhalb von Slow Food, aktiv zu werden und im Alltag Veränderungen zu erreichen. Gute (frisch und lecker), saubere (gesunde und umweltfreundliche Produktion) und faire (erschwingliche Preise bei gerechten Konditionen für die Erzeuger) Lebensmittel zu produzieren vernetzen sich Erzeuger und Konsumenten der lokalen Kreisläufe. Das erinnert an Food-Koops und lokale Märkte, genau! Hier in Italien firmieren (ganz ohne Slow Food) die lokalen Märkte unter kilometro zero (null Kilometer) und Einkaufsgruppen für Früchte, Gemüse, Fleisch und Fisch unter der Abkürzung GAS, gruppo acquisto solidale. Ein bekanntes, bewährtes Prinzip und wirksam dazu, denn die Effekte sind vielfältig: saisonale und damit frische Produkte, Bevorzugung lokaler Sorten und Rassen und dadurch Reduzierung chemischer Behandlungen, Stärkung lokaler Wirtschaftskreisläufe (und nebenbei Plastik reduziert). Nebenbei werden Preise aufgrund kurzer Produktionsketten reduziert ohne das Einkommen für die Erzeuger zu schmälern. Terra Madre-Gemeinschaften existieren mittlerweile in 160 Ländern von Afghanistan bis Zimbabwe.
Unser Essen ist politisch
Wie politisch diese Ziele sind zeigt sich nicht zuletzt in der Unterstützung der Ökozid-Petition durch Slow Food. Eine extrem aufgeheizte Debatte um die Zerstörung von Lebensgrundlagen, Erzeugung von Resistenzen, Artenschwund, Landflucht vs. Produktivitätssteigerungen und Reduzierung von Pestiziden durch gentechnisch veränderte Pflanzen. Der sonst eher für seine feine Ironie geschätzten Autor und Journalist Jan Grossarth beschuldigte die Aktivisten, die sich der Petition angeschlossen haben, nur platte Schuldzuweisungen anzubieten und deshalb (technische) Lösungen zu verhindern.
Doch Slow Food ist eher für pragmatische Lösungen bekannt, die im lokalen, piemontesischen Erbe, einer jugendlichen Pragmatik und Begeisterungsfähigkeit gründen. Ich finde die Konzepte und Prinzipien in meinem italienischen Alltag täglich wieder. Während des Salone freue ich mich besonders auf die Konferenzen, bei denen es besonders um die politischen Aspekte gehen wird: Kontrolle über die Lebensmittelproduktion, Produktionstechniken, Gartenrevolution, Food- und Agromafias (ein ur-italienisches Thema).
Die Erde lieben – Voler bene alla terra
„Voler bene alla terra“ „Die Erde lieben“ ist das Thema des diesjährigen Salone. Wie das konkret geht? 1. „Etwas anbauen“ „coltivarla“ 2. „Prendersene cura“ „Sich um sie kümmern“ (das versteht jeder, der einen Garten hat :D), 3. sich mit ihr sanft und liebevoll beschäftigen (z. B. mit Fantasie, Herz, Geduld und Verzicht auf Chemiekeulen). Als Gartenanfänger kann ich bestätigen, dass das Geduld erfordert, aber eben auch tiefe Befriedigung bringt. (He, und das ist kein Altersding! siehe)
Das lohnt den Besuch auf Terra Madre Salone del Gusto 2016
Irgendwie sind Genuss und feines Essen ein Thema für jedermann, finde ich. Und ein Besuch in Turin lohnt immer, aber vom 22. bis 26. September besonders für alle, die das mögen:
- Kulinarisch um die Welt reisen
- Sterneköchen auf die Finger gucken
- Italienische und internationale Sterneküche (zum kleinen Preis) genießen
- Mit Davide Scabin in die kulinarische Zukunft schauen
- Von Produzenten alles über natürliche Weine erfahren
- Kleine und feine Champagnerproduzenten kennenlernen und ihre Weine verkosten
- Junge Sterneköche treffen
- Craft Bier verkosten
- Das Politische am Essen ausloten
- Indigene Gemeinschaften kennenlernen und über ihr Leben lernen
- Die Protagonisten der Gartenrevolution treffen
- Spezialist für Schottischer Whisky werden
- Verbindung zwischen Artenvielfalt und Kunst entdecken
- Herausfinden, ob mit Agroökologie die Menschen auf der Erde satt werden können
- Bartrends kennenlernen: Avantgarde Cocktails mit Essig
- Terra Madre Gemeinschaften aus aller Welt treffen
- Vom 35. Stockwerk mit Blick auf Turin bei Ivan Milani speisen
- Sich über Migration, Bienen, Fisch und Fleischkonsum schlaumachen
- Alles über Trapistenbier lernen, und mexikanisches Bier (Bier ist überhaupt ein starkes Thema …)
- und über Gin
Ihr seht, neben Sterneköchen, Artenvielfalt und Bienen haben auch jede Menge Bier, Gin und Champagner Platz. Dazu Schlösser und Parks mit tollem Blick auf die Alpen, muss ich mehr sagen? 😉
PS: Mehr Wissen über Slow Food und meine Eindrücke vom Salone gibt es in Kürze, hier!